12. Februar 2015
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Sterben in der Großstadt

 

 

 

 

 

 

Mutter ist gestorben. Meine Schwiegermutter. Ich sagte Mutter zu ihr. Meine Mutter war meine Mama, und Mama gehörte nur ihr. Nun ist sie also gestorben, heute, am Sonntag um 10 Minuten vor 10. Ich war gerade beim Füttern unserer verlassenen Straßenkatzen, ich war in der Hocke, neben den Fressnäpfen, und ich streichelte die schwarz-weiße Katze und genoss den ersten warmen Sonnentag im neuen Jahr, als mein Telefon klingelte. Sicher wollte mein Mann kontrollieren, ob ich das Handy auch eingesteckt habe. Das macht er manchmal. „Mutter ist gestorben“ Ich fragte ihn, wer gestorben sei, ich hatte es irgendwie verstanden, und dann auch doch nicht. „Mutter“. Mutter ist gestorben. Ich sah zu, wie die Katzen den letzten Rest aus der Schüssel schleckten, und lief zum Haus zurück, 100 Meter. 100 mal der Gedanke: Mutter ist gestorben. Mutter wäre demnächst 98 geworden, oder 99, so genau weiß das keiner. Das ist hier manchmal so.

Seit über 2 Jahren musste sie betreut werden, konnte aber immer noch alleine essen, war geistig total fit, und bei sämtlichen Dayli Soaps up to date. Gestern war sie doch noch so lustig, und machte Scherze, als ihr kleiner Urenkel zu Besuch war. Wir hatten es irgendwie erwartet, aber doch nicht jetzt. Doch nicht jetzt. Ich kam nach Hause, Ferit saß fassungslos neben dem Telefon. „Wir müssen einen Flug buchen“ sagte ich, „und Ali muss zurückkommen.“ Unser Gärtner war gerade einen Tag vorher in Urlaub gefahren, er muss zurückkommen, jemand muss sich um unsere Tiere kümmern. Es gab keinen Flug nach Istanbul, alles ausgebucht, und morgen nach dem Mittagsgebet ist schon die Beerdigung. Ali kommt, wir fahren nach Izmir, es gab noch 2 Plätze in der Abendmaschine. Die 3 Stunden Fahrt verlaufen ruhig. Ich weine nicht. Mutter hatte ein wunderbares Leben, sie wurde geliebt, verehrt, auf Händen getragen, und sie starb glücklich; wenn es so etwas wie „glücklich sterben“gibt. Gestern kehrten mein Neffe, ihr Enkel, mit seiner jungen japanischen Frau Yoshiko, in die Türkei zurück. Heute morgen besuchten sie Mutter, sie schaute die Beiden an, und starb. Einfach so.

Zum ersten Mal seit 35 Jahren werden wir in Istanbul im Hotel wohnen. Immer wohnten wir bei den Eltern, dann nach Vaters Tod bei Mutter. Ein Aufenthalt, vielleicht mal ganz heimlich in einem Hotel wäre undenkbar gewesen. Mutter wäre traurig und beleidigt gewesen, und nun gehen wir ins Hotel.

Alle Geschwister, die alle erst am Tag ihrer Hochzeit ausziehen konnten, hatten sich Wohnungen ganz in ihrer Nähe gesucht. Nur wir waren aus der Reihe getanzt, später, als wir wieder nach Deutschland zurückkehrten. Als ich vor 35 Jahren nach Istanbul kam, war es selbstverständlich, dass mein Freund zwei nebeneinander liegende Wohnungen mietete, eine für die Eltern, eine für uns. Frühstück, Mittagessen, Abendessen bei den Eltern. Jeden Tag. Mutter war die Königin, eine autoritär liebevolle Patriarchin der Familie und sie saß auf einem unerreichbaren Trohn.

Am Flughafen in Istanbul schneite es. Ich wollte unbedingt Blumen kaufen. Es gab tatsächlich einen kleinen Stand neben einem Souvenirgeschäft, und ich suchte die am wenigsten verwelkten Blumen aus. Leider ist die Kultur des Blumenschenkens hier noch nicht so richtig angekommen. Wir brachten das Gepäck ins Hotel, und fuhren durchs dichte Schneegestöber zu Mutters Wohnung. Alle Geschwister meines Mannes, einige andere Verwandte, und sein Freund saßen im Wohnzimmer und tranken Tee. Es war wie immer, nur Mutter saß nicht mehr auf ihrem Platz. Ich wollte Mutter sehen und ihr meine Blumen bringen. Sie lag auf ihren Bett im Schlafzimmer, zugedeckt mit einem weißen Leintuch. Man hatte sie ins Bett gelegt, das sie so sehr hasste, in dem sie seit 2 Jahren nie mehr geschlafen hatte, aus Angst dort zu sterben. Sie schlief seither im Sessel, dort glaubte sie sich sicher.

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Meine Schwiegereltern, mein Mann und sein kleiner Bruder, ca. 1952

 

Es war eiskalt im Zimmer, sie lag da, ein kleiner Mensch unter einem weißen Tuch, mit einem Messer auf dem Bauch. Es schien ein altes handgefertigtes Messer zu sein. Der dicke Holzgriff schien uralt, die schmale spitze Klinge zeigte Richtung Kopf. Es sah so befremdend und irgendwie sehr gefährlich aus. Was machte dieses Messer da??? Ich nahm es weg und deckte Mutters Kopf auf. Jetzt kamen die Tränen. Ich weinte um sie, um das Glück so ruhig und schmerzlos zu sterben, um verpasste Gelegenheiten, ihr nochmals zu sagen, dass ich sie liebe, um meine Mama, die so leiden musste, und ich weinte auch um mich. Ich betete. Eigentlich kann ich das nicht so gut, aber vielleicht hatte Gott gerade Zeit und hörte zu. Wir legten den Blumenstrauß neben sie, bedeckten sie wieder und verabschiedeten uns. Das schreckliche Messer wurde wieder auf ihren Bauch gelegt.

Ich fragte nach, was das zu bedeuten hat, niemand wusste es so richtig; man macht das eben so. Ich erfuhr, dass Ferits Freund, ein Arzt, das veranlasst hatte. Angeblich sollten sich dann keine Gase im Bauch bilden. Aber musste es ein Messer sein??? Vielleicht hätte der Blumenstrauß, der bestimmt schwerer als das Messer war, den gleichen Zweck erfüllt?!

Es war schon fast 3 Uhr morgens, als wir wieder im Hotel ankamen.

Um 8 Uhr am Morgen kam der Leichenwagen und Mutter wurde in dem Leihsarg zur rituellen Waschung In die Moschee gebracht. Einige meiner Schwägerinnen begleiteten sie auf diesem Weg. Ich wollte nicht mit. Normalerweise übernehmen die weiblichen Verwandten diese letzte Aufgabe der Waschung, aber meine Schwägerinnen konnten es nicht, sie überließen es den Waschfrauen. Mutter wurde in ein 9 m langes, weißes Tuch gewickelt, über dem Kopf, am Bauch, und unter den Füßen wurde es mit einem grünen Band zugebunden. So verschnürt wurde Mutter in den einfachen Holz-Leihsarg gelegt. Hier sind wirklich alle Menschen gleich. Jeder, egal, ob Bettler oder Multimillionär, jeder bekommt 9 m Stoff und einen Leihsarg.

Wir waren in dieser Zeit auf der Suche nach Blumen, was sich als sehr schwierig herausstellte. Wir fuhren extra in die Nähe von Mutters Wohnung, dort hatte die Zigeunerin Filiz an der Straßenecke seit ca. 10 Jahren einen kleinen Blumenstand. Das war unsere letzte Rettung. Wir kamen an, sprangen aus dem Auto, -der Stand war immer noch mit Plastikfolie zugedeckt, es war geschlossen! Zum Glück fanden wir auf dem Weg zur Moschee noch ein kleines Geschäft in einer Seitenstraße, und Ferit kaufte alle roten Rosen auf.

Inzwischen war der Sarg im Hof aufgestellt. Er war mit einem grünen Tuch bedeckt, auf welches mit goldenem Garn Gebete gestickt waren. Die Trauergäste trafen langsam ein. Außer Yoshiko, die die Flughafenblumen fest im Arm hatte, und mir, hatte niemand Blumen mitgebracht. Viele der Trauergäste spendeten am Eingang der Moschee für eine Organisation, die für bedürftige Kindern Schul-Stipendien ermöglicht. Die Namen der Spender wurden auf ein Band ausgedruckt, und auf einer Wand ausgestellt. Ich ging nochmals zum Sarg, und legte meine Hände auf das Tuch. Nur das Holz trennte mich von unserer zugeschnürten Mutter. Ich weinte. Dann versammelten sich die Männer nah um den Sarg, die Frauen bildeten den äußeren Kreis. Erst seit ungefähr 17 Jahren gehen auch Frauen in den Großstädten auf Beerdigungen. Beerdigungen waren Männersache, bei der Frauen nichts zu suchen hatten. In unserem Dorf ist es immer noch üblich, einige Frauen setzen sich trotzdem darüber hinweg.

Der Hodscha sprach die Gebete auf arabisch, natürlich verstand ich überhaupt nichts. Ich umklammerte meine beiden Rosensträuße und beobachtete alles. Tatsächlich gab es auch hier einige Menschen, die auch jetzt telefonieren mussten, oder ihre Mails checkten. 10 Minuten ohne Smartphone, hier absolut unmöglich.

Das Gebet war beendet, der Sarg wurde in den Leichenwagen geladen, alle stürzten zu ihren Autos, um möglichst schnell zum ca. 20 km entfernten Friedhof zu fahren. Die Stadt stellte einen Minibus für die Trauergäste zur Verfügung, natürlich kostenlos, wie alles andere auch. Sterben kann ich tatsächlich jeder leisten. Ich zwängte mich mit meinen Rosen in ein Auto, Ferit hatte keinen Platz mehr, er fuhr in einem anderen Wagen mit. Über die Autobahn hetzten wir hinter dem Leichenwagen her.

Vor 15 Jahren hatte die Familie eine Grabstätte gekauft, es war ein neu angelegter Friedhof, weit außerhalb der Stadt. Es gab damals keinen Baum, keinen Strauch, nur frische Gräber und ca. 20 Straßenkinder, die in zusammengeflickten Plastiktüten-Hütten hinter den Grabsteinen lebten.

 

Wir kamen zum Friedhof, und fuhren unter einer Allee von Zypressen direkt zu Vaters Grab. Es war eisig kalt, der Himmel war blau, und die Sonne strahlte durch die Bäume. Als wir ankamen, war nur eine kleine Gruppe Trauernder anwesend, der Sarg stand schon neben dem ausgehobenen Grab auf der Erde. Die beiden Brüder meines Mannes standen im Grab und der Hodscha sprach noch ein paar Gebete. Ferit und viele der Anderen waren immer noch nicht angekommen. Wo waren sie denn? Ich hatte die Rosen an mich gepresst, die Nase lief, und ich hatte Angst vor den Straßenkindern, die uns damals bei Vaters Beerdigung so schlimm bedrängten, dass man keine Sekunde denken konnte. Außer einigen unbekannten jungen Männern, die mit Schaufeln hinter dem Grab standen, war niemand zu sehen.

Der Fahrer drängelte, wollte den Sarg zurückhaben, der nächste Tote wartete schon. Wo waren die anderen, wo war Ferit? Mutter wurde aus dem Sarg gehoben, Mehrere Männer versuchten sie zu halten, es war nicht einfach. Die beiden Brüder, die im Grab warteten, versuchten Mutter zu übernehmen, fast entglitt sie ihnen, ich hatte Angst, dass sie herunterfällt, konnte fast nicht hinschauen. Ich sah mich um, der Sarg war schon aufgeladen, und der Wagen war schon an der nächsten Ecke. Mutter lag in der bitter kalten Erde, die Brüder konnten nur mit vereinter Hilfe wieder aus dem Grab heraussteigen, lehmige Erde war an ihren Hosen und klumpte an den Schuhen. Ferit war immer noch nicht da. Schon wurden die unteren Betonplatten von einem der unbekannten jungen Männer über Mutters Betongrab gelegt. Bei Vaters Beerdigung wurden Holzbretter dachförmig aufgestellt.

Eine Platte fehlte noch, Ferit war immer noch nicht da. „Warte, warte!“ Der junge Mann schaute mich fragend an und dann in die Männerrunde. „Warte!“ Ich nahm alle meine Rosen, küsste sie, und warf sie direkt auf Mutters kleinen Körper ins Grab. Die letzte Betonplatte wurde aufgelegt, und Ferit war immer noch nicht da.
Sofort fingen einige der männlichen Verwandten an, das Grab zuzuschaufeln. Der Hodscha betete.
Ferit, seine Schwester, ihr Sohn und Yoshiko kamen an. Zu spät. Sie waren total entsetzt. Der Hodscha ging zur nächsten Beerdigung. So viele standen am 5. Januar Schlange am Tor zum Paradies. Das Grab war inzwischen in aller Eile komplett zugeschaufelt, einige der unbekannten jungen Männer halfen mit, setzten den heraus gegrabenen Bodrumer Rosenstock wieder ein. Die jungen Männer, waren das womöglich die inzwischen erwachsenen Straßenkinder ??

Yoshiko legte die Blumen des Flughafenstraußes einzeln auf die aufgehäufte Erde, und wir gingen zu unseren Autos zurück. Diese ganze Aktion, – als Zeremonie kann man es nicht bezeichnen-, hat nicht länger als 20 Minuten gedauert. Es kamen immer noch Trauergäste an. Zu spät. Ich war sehr traurig, für mich war es würdelos. Hier in der Großstadt hat man keine Zeit, einen geliebten Menschen respektvoll der Erde zu übergeben. Es ist so unendlich traurig.

Viele der Trauergäste gingen nach Hause, die anderen fuhren zu Mutters Wohnung. Nachbarn und Verwandte brachten Essen vorbei, und es gab Tee und ein traditionelles süßes Grießgericht. Ständig kamen neue Besucher, die alle verköstigt wurden. Nachbarn brachten weitere Sitzgelegenheiten. Überall saßen Menschen, auch auf dem Boden, Mutters Sterbe-Sessel war auch besetzt. Auf diesem Sessel saßen ein Mensch, der atmete, und der sich mit anderen unterhielt. Es kam mir so seltsam vor. Das Leben geht einfach weiter. Auch die Küche war überfüllt, ich klebte in der Ecke auf dem wackligen Stuhl neben dem Toaster.

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Geschwister bei Ferits 60. Geburtstag 2007

Am Nachmittag kam ein anderer Hodscha, um das Mevlüt, ein Gebet zu singen und seinen Segen auszusprechen. Er setzte sich ins Wohnzimmer an den großen Esstisch und fing zu singen an. In der Küche quatschten die Frauen unbeirrt weiter, oder telefonierten, und der Hodsch sang vor sich hin. Was war das denn???
Irgendwann schälte ich mich aus meiner Ecke, und stellte mich in den Gang. Der Gesang war wunderschön. In der Küche wurde unüberhörbar weiter geplaudert und getuschelt, ich war fassungslos. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass es früher vielleicht gar nicht so schlecht war, den Frauen die Teilnahme bei Beerdigungen zu verbieten. Ich hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, sah ich, dass einer der Männer so nebenbei seine Mails checkte und ein anderer eine SMS schrieb. Dann klingelte irgendwo das Handy und das Gespräch wurde angenommen. Der Hodscha sang unbeirrt weiter. Irgendwann schien den Küchendamen der Gesprächsstoff ausgegangen zu sein, es war ruhiger geworden. Der Hodscha predigte inzwischen auf türkisch, endlich konnte ich etwas verstehen. Er sagte, dass der Mensch im Leben nur 3 Dinge zu erfüllen hätte, um ein guter Mensch zu sein. 1. Nächstenliebe und respektvoller Umgang mit den Mitmenschen. 2. Dem Nächsten zu helfen, und für ihn da zu sein. 3. seine Pflicht als guter Mensch der Familie und der Gesellschaft gegenüber zu erfüllen, und in Frieden mit den Mitmenschen zu leben. Es war ein wunderbares Gebet, ich ging zu ihm, und bedankte mich für seine wunderbaren Worte, die in jeder Glaubensrichtung Gültigkeit haben. Später erfuhr ich, dass der Hodscha Wirtschaft studiert hatte, auch einen entsprechenden Beruf ausübt, und sich ehrenamtlich in kleinen Moscheen engagiert.

Wir saßen wieder bis nach Mitternacht zusammen. Die zwei Schwestern meines Mannes wollten eine Woche lang in der Wohnung übernachten, um Mutters Seele nicht zu beleidigen, indem sie ein leeres Haus zurücklassen. Ich dachte an die Beerdigungen in unserem Dorf, die doch so ganz anders ablaufen. Würde-und respektvoll. Der Sarg wird von der kleinen Moschee in der Dorfmitte, fast einen Kilometer, bis zum Friedhof von Hand zu Hand über den Köpfen der Männer weiter gereicht. Frauen sind nur vereinzelt anzutreffen. Der Hodscha singt seine Gebete ohne Eile und wartet bis der letzte Trauernde den Friedhof verlassen hat.

Es war ein emotionaler, anstrengender Tag, und  ich wünschte mir, nicht in einer Großstadt in der Türkei zu sterben, oder noch besser, dass es am Besten wäre, erst mal gar nicht zu sterben.

Mutter

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Patriarchin der Familie

am 3. Januar 2015

 

© by Isabella Bakioglu

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