Wenn im September rund 30 000 Rinder von den saftigen Bergweiden in den Allgäuer Alpen ins Tal zurückkehren, werden sie von mindestens doppelt so vielen Menschen freudig erwartet. Das sind zum einen die Landwirte, die ihr Jungvieh den Sommer über einer Alpgenossenschaft anvertraut haben und die Tiere nun wieder in ihren Stall bringen. Der weitaus überwiegende Teil aber sind Gäste, die den traditionellen Allgäuer Viehscheid mit den Bauern als großes Volksfest feiern.
Im Allgäu gehört ein Großteil der Bergweiden seit Alters her den bäuerlichen Genossenschaften. Die Flächen weit über die Waldgrenzen hinaus bis in die alpinen Hochlagen sind so riesig, dass die Grundbesitzer nicht nur ihr eigenes Vieh auftreiben, sondern auch Jungtiere von Bauernhöfen im Alpenvorland zur „Sommerfrische“ in Pension nehmen. Seit vielen Jahren grasen nach Angaben des Alpwirtschaftlichen Vereins in Immenstadt, rund 27 000 Stück Jungvieh und etwa 3000 Milchkühe auf den Hochweiden. Die Kühe liefern Milch für den Allgäuer Bergkäse, der von den „Älplern“ in kleinen Sennereien täglich erzeugt wird. Die Alpenkräuter im Futter machen diesen Käse besonders würzig. Der gute Wuchs der Vegetation hat unter der Hitzewelle im Juli kaum gelitten,. Bis Ende Juni waren große Altschneefelder erhalten geblieben, die in den folgenden Wochen Bäche und Rinnsale nicht versiegen ließen und auch Schmelzwasser zur Tränke des Viehs lieferten.
Das Vieh trägt diese großen Glocken nur zum Abtrieb um den Hals. Oft laufen die Tiere an diesem Tag bis zu 30 km.
Die sogenannten „Schellen“ sind speziell für die Viehscheide gefertigt, werden nur an diesem Tag getragen und den Tieren bereits am Vortag des Viehscheids umgelegt, was bei einer Herde von 100 Stück Vieh entsprechend zeit- und arbeitsaufwendig ist. Seit dem ersten Alpabtrieb, der in der Region etwa um 1900 stattfand, tragen die Tiere traditionell als Festschmuck größere Schellen, als auf der Weide.
In aller Frühe mit den ersten Sonnenstrahlen beginnt der Abtrieb von der Alpe. Im Tal auf dem Scheidplatz werden die Rinder und Helfer schon meist sehnsüchtig erwartet. Die Tiere müssen nun wieder aus der Herde sortiert und ihrem rechtmäßigen Eigentümer übergeben werden. Dabei kennt der Älpler „seine“ Tiere ohne auch nur einen Blick auf die Ohrmarke zu werfen.
Nach drei Monaten im Gebirge ist das Jungvieh nicht nur kräftig heran gewachsen. Es hat sich im rauen Klima der Alpen auch ein dickes Fell zugelegt. Die Eigentümer, die ihre Tiere Anfang Juni in die Hände von erfahrenen Hirten gegeben haben, würden die Rinder kaum wiedererkennen. Die „Älpler“ aber haben die Herden täglich gehütet und den Aufwuchs beobachtet. Sie kennen jedes einzelne Stück. Jetzt beim Viehscheid sind sie in der Lage, die Tiere ohne Blick auf die Ohrenmarke aus der Herde auszuscheiden und ihren Besitzern zurück zu geben. Daher rührt auch der Name Viehscheid. Besonders stolz sind die Hirten, wenn sie ihre Herde gut gepflegt und ohne Verlust zurück ins Tal treiben können. Dann schmücken sie das Gehörn des Leittieres mit einem aus Latschen und Blumen geflochtenen Kranz, der zum Entzücken der Zuschauer ein tolles Motiv für die Kamera liefert.
Wenn der Sommer auf der Alpe ohne Unfall oder Verlust eines Tieres verlaufen ist, führt der Hirte ein sogenanntes Kranzrind vor der Herde am Halfter. Der Älpler, also der Hirte, wählt zum Ende des Sommers das schönste Rind aus der Herde zum Kranzrind. Traditionell ist das ein Stück Braunviehmit der durchgehenden markanten braun-beigen Färbung.
Neben Fichtenzweigen und bunten Bergblumen, die die Krone bilden, ist oft auch noch ein Kreuz oder Spiegel in den Kopfschmuck gebunden. Das Kreuz steht für den Schutz Gottes und der Spiegel soll böse Geister erschrecken und abwehren.
Der Tag klingt mit einem Scheidball im Festzelt zu Ehren der Alphirten und Alpmeister bei zünftiger Musik aus.